Selbstvermessung? Ein enormes gesundheitliches Risiko.

Unter dem Motto „Passt perfekt. Passt zu Dir“ können seit kurzem knapp 8 Millionen Versicherte ohne fachmännische Vermessung medizinische Einlagen online und im Versand bestellen. In der Kooperation mit der BARMER Ersatzkasse werben Anbieter wie craftsoles oder Meevo zudem mit der „geschenkten gesetzlichen Zuzahlung“. Was sich smart, modern und hip anhört birgt allerdings erhebliche Risiken für die Gesundheit und hat nun auch die medizinischen Fachgesellschaften zu einer Stellungnahme veranlasst.

Versorgung ohne Fachkontrolle „hoch Fehler-anfällig”

Nach Auskunft der Fachgesellschaften, zu denen u. a. die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie (DGOOC) und die Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) zählen, ist die durch die BARMER angebotene Versorgung ohne Fachkontrolle „hoch Fehler-anfällig und birgt die Gefahr einer Fehlversorgung oder gar einer sekundären gesundheitlichen Schädigung in sich“. Durch die Selbstvermessung des Versicherten mittels eines zwei-dimensionalen Abdrucks ist „das therapeutische Ziel (Rückfußaufrichtung, Druckumverteilung) nicht zu definieren, da relevante Informationen (z.B. Flexibilität der Fehlstellung) fehlen.“

Zudem kommt die Stellungnahme der Fachgesellschaften zu dem Urteil, dass das Versorgungskonzept ohne fachmännische Begleitung den im Hilfsmittelverzeichnis festgeschriebenen Mindestanforderungen widerspricht. Eine Versorgung von gesetzlich Versicherten darf jenseits der Mindestanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses nicht erfolgen.

Kostensenkung vor Patientensicherheit?

„Leider geben uns die medizinischen Fachgesellschaften Recht. Es ist erschreckend, welchem Risiko eine der größten bundesweiten Krankenkassen ihre Versicherten aussetzt. Gesundheitliche Schäden werden bewusst in Kauf genommen. Bei einer Versorgung im Versand und per Selbstvermessung durch den Versicherten geht es nicht um innovative Versorgungskonzepte, schon gar nicht um digitale Innovationen, sondern nur um eins: Kostensenkung pur.“, kommentiert Alf Reuter die Stellungnahme der Fachgesellschaften.

Gefahr für den diabetischen Fuß (DFS)

Druckentlastende Schuheinlagen sind ein wichtiger Teil der Versorgung bei Diabetes mellitus. Hierbei geht es einerseits um Prävention von Wunden und andererseits auch darum, dass bereits bestehende Wunden eines DFS heilen können. Dafür braucht es individuell angepasste Schuhen und eine geeignete Fußbettung mit einer Weichbettungseinlage. Diese Einlagen haben die Funktion, den Fuß durch Druckumverteilung zu entlasten und durch stoßdämpfende Eigenschaften zu schonen. Betroffene sollten zudem unbedingt einen Arzt aufsuchen, bevor ihre spezielle diabetesadaptierte Fußbettung angefertigt wird.

Orthopädietechnikermeister Matthias Roßmann:  „Wir können von unseren Patienten nicht erwarten, dass sie sich selbst korrekt vermessen. Dafür braucht es aus gutem Grund eine fachmännische Ausbildung. Ein Hilfsmittel, das nicht benutzt wird, weil es nicht passt oder Folgeschäden verursacht, hilft nicht und kann nur Schaden anrichten“, erklärt Roßmann. Außerdem gibt er zu bedenken, dass die Haftungsübernahme bei möglichen Folgeschäden, die aus der Selbstvermessung durch den Patienten entstehen können, nicht geregelt sei: Wenn beispielsweise ein diabetischer Fuß fehlerhaft versorgt wird und daraus eine Fuß- oder Unterschenkelamputation folgt: Ist dann der Patient selbst schuld? Eine skandalöse Vorstellung.“

Hilfsmittelbranche braucht Qualitätsstandards

Michael Möller, technischer Chair der AG Fuß und Schuh der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV), ergänzt: „Der Bereich der Einlagenversorgung zeigt uns exemplarisch, dass wir Qualitätsstandards in der Hilfsmittelbranche brauchen, die sich dann auch im Hilfsmittelverzeichnis und schließlich in der alltäglich gelebten Patientenversorgung widerspiegeln. Diese Qualitätsstandards müssten dann auch bundeseinheitlich verbindlich geregelt sein und durch Krankenkassen und den medizinischen Dienst entsprechend kontrolliert werden. Es kann nicht sein, dass Krankenkassen geltende Standards wie Hilfsmittelverzeichnis und Regelungen der Patientensicherheit selbst unterlaufen.“ Zudem gab Möller zu bedenken, dass Kundenzufriedenheit kein Beweis für Versorgungsqualität darstelle: „Wie soll der Patient alleine darüber entscheiden, ob die Einlage den gewünschten Behandlungserfolg erzielt? Das Aussehen der Einlage oder die Betreuung per Chat sind mit Sicherheit nicht die geeigneten Parameter, um die Qualität einer Versorgung zu bewerten.“

 

Die erwähnte Stellungnahme wird von folgenden Fachgesellschaften gemeinsam getragen:

des Beratungsausschusses der DGOOC für das Handwerk Orthopädieschuhtechnik,
der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU),
der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC),
des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU),
der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) und des Zentralverbandes für Orthopädieschuhtechnik (ZVOS)
der Vereinigung Technische Orthopädie der DGOU.

Sie liegt dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik in voller Länge vor.

 

In Anlehnung an: pi Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, 16.08.2021 unter biv-ot.org und 10.09.2021 via lifepr.com. Beitragsbild: User:Enter/Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 4.0