Anfang Dezember 2023 läuft die Übergangsfrist für die Evidenznachweise der „sonstigen Produkte zur Wundbehandlung“ aus, sollte der Gesetzgeber bis dahin nicht gehandelt haben. Betroffen sind über 400 silber- oder PHMB-haltige Wundauflagen, die ein neues Nutzenbewertungsverfahren beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit einer positiven Bewertung durchlaufen müssen, damit sie weiterhin von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet werden können. Die Kriterien zur Bewertung sind aus Sicht der Wundexpert:innen noch immer nicht ausreichend klar. Zusätzlich fehlen auf die Wundversorgung angepasste Evidenzkriterien. Das verdeutlichte eine Diskussionsrunde auf dem Deutschen Wundkongress (DEWU) und Bremer Pflegekongress mit dem Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) im Mai 2023. Das Hauptproblem bleibt der zu erreichende Endpunkt einer Behandlung. Hier müsste der G-BA dringend für Klarheit sorgen, so die Expert:innen.
Ist das Ziel „kompletter Wundverschluss“ denn schon alles?
Ist eine Wundauflage ausschließlich bei dem Ziel „kompletter Wundverschluss“ positiv zu bewerten? Oder sollen auch andere Kriterien wie die Reduktion der Wundfläche, Schmerzen oder klinischen Infektionszeichen für die Nutzenbewertung als Evidenz herangezogen werden? Und wie könnte dies valide gelingen? Diesen Fragen widmete sich die Kongress-Diskussionsrunde. Das Fazit: Der G-BA muss tätig werden, um Sicherheit über die Verfahren und die nötigen Nachweise für die Hersteller von Wundauflagen zu schaffen.
Als „sehr misslich“ bezeichnete Rechtsanwältin Julia Semann von NOVACOS die derzeitige Situation für Unternehmen, deren Produkte als „sonstige Produkte zur Wundbehandlung“ (SPzW) kategorisiert wurden und die für diese Produkte beim G-BA einen Antrag zur Nutzenbewertung stellen müssen. „Alles ist in Diskussion, alles ist offen“, sagte sie. Die Wundbehandlung sei ein spezielles Feld mit unterschiedlichsten Patient:innen und auch einer besonders breiten Palette an Produkten. Bei der Bewertung dieser Wundprodukte orientiere sich der G-BA an den Kriterien für Arzneimittel. Diese seien jedoch „für den speziellen Bereich der lokalen Wundbehandlung nicht geeignet“, da nicht festgelegt sei, was die Endpunkte oder beispielsweise die Vergleichsprodukte seien. Denn bei entsprechenden Indikationen seien die antimikrobiellen Wundauflagen, beispielsweise silberhaltigen Produkte, selbst der Standard. Es mangele an „angepassten Evidenzanforderungen“ für diese speziellen Produkte zur Wundbehandlung.
Definition von Endpunkten bei Wundbehandlung
Die vielfältige Problematik der Endpunkte für Studien zu Wundprodukten war ein Kernpunkt der Diskussion. Dr. Holger Diener, Chefarzt der Abteilung für Gefäß- und Endovaskularchirurgie am Krankenhaus Buchholz, wies unter anderem auf die Komplexität von Wunden hin, die an sich somit bereits schwierig zu standardisieren seien. Es fehlten Registerdaten und es sei nötig, die „Real-Life-Bedingungen“ zu berücksichtigen. Er wies darauf hin, dass viele der betroffenen Produkte nur zeitlich befristet in der Therapie eingesetzt würden – und entsprechende Studien bis zum Endpunkt der Wundheilung, insbesondere bei chronischen Wunden, nicht umsetzbar seien.
Dr. Angela Lammert von WS Value & Dossier sagte, dass die höchst unterschiedlichen individuellen Krankheitsbilder es erschweren, eine ausreichende Zahl an Patient:innen für die jeweiligen Studien zu finden. Wundversorgungs-Experte und Berater Dr. Horst Braunwarth sprach sich dafür aus, bei der Evidenz dieser nur intermediär angewendeten Wundprodukte nicht ausschließlich den Wundverschluss als Endpunkt zu wählen, zumal dies nicht der Zweckbestimmung dieser Produkte entspreche. Ein „guter Parameter“ wäre als Surrogat für die Wundheilung die Verringerung der Wundfläche heranzuziehen. Ein systematisches Review zeige eine entsprechende Korrelation zwischen einer relevanten Reduktion der Wundfläche und der Wundheilung.
Prof. Dr. Andreas Maier-Hasselmann, Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie an der Münchner Klinik Bogenhausen, teilte „nicht ganz“ die Einschätzung einer mangelnden Studienlage. Es gebe Studien zu silberhaltigen Wundprodukten, vor allem aus Frankreich, die für die Evidenzbeurteilung herangezogen werden könnten. Allerdings seien dies nur sehr wenige und sie würden keinen Vorteil der silberhaltigen Wundprodukte im Hinblick auf die Wundheilung belegen. Außerdem gebe es mit vorliegenden, zu kleinen Studien ein generell zu beachtendes „Validitätsproblem“. Deren Ergebnisse lägen oft im „Zufallsbereich“. Valide seien Studien erst mit über 200 Patient:innen, so Prof. Dr. Maier-Hasselmann.
Aus den vorgenannten Gründen der Heterogenität und Multimorbidität der Patient:innen, der Verschiedenheit der Wunden insbesondere im Fall einer Wundinfektion und der nur temporären Anwendungen, sei dies jedoch kaum realisierbar, so weitere Teilnehmende des Podiums.
Ersatz für Endpunkt Wundverschluss gefordert
Als mögliche Surrogatparameter für die Evidenz von Wundversorgungsprodukten wurde die Wundflächenreduktion statt des Wundverschlusses als besonders tauglich hervorgehoben. So sei es möglich und wünschenswert, bei einer erkennbar kleiner werdenden Wunde auch von einem sich weiterhin ergebenden Wundverschluss auszugehen und dies für die Evidenz als Surrogat zu akzeptieren, erläuterte Braunwarth. Diesbezügliche Studien lägen vor und sollten daher verwendet werden. Auch Lammert verwies auf „zahlreiche“ dazu vorliegende Studien, die aktuell in einem systematischen Review zur Surrogatvalidierung zusammengefasst wurden. Maier-Hasselmann nannte dagegen den Wundverschluss den für den Patient:innen entscheidenden Endpunkt, der zudem objektiv gemessen werden kann, während sich bei der Beurteilung und Messung der Wundflächenreduktion Fehler einschleichen könnten.
Von den Teilnehmer:innen auf dem Podium und aus dem Publikum wurden darüber hinaus auch andere zu berücksichtigende patient:innenrelevante Faktoren wie die Reduktion von Schmerzen oder Hospitalisierungen, der Lebensqualität sowie ökonomische Aspekte genannt. Braunwarth sagte, dass zu vielen dieser Punkte die Studienlage „besser ist, als in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen: Evidenz besteht und diese ist zunächst einmal auch im Sinn der evidenzbasierten Medizin zu nutzen“. Die Fokussierung auf den Wundverschluss oder die Wundheilung als primärer Endpunkt werde der Praxisanwendung antimikrobieller Wundprodukte nicht gerecht. Maier-Hasselmann verwies darauf, dass zwar die Berücksichtigung der Lebensqualität ein patient:innenrelevanter Endpunkt sei, dazu aber leider keine randomisiert kontrollierten Studien vorlägen.
Unabhängig davon sei aktuell unklar, inwiefern der G-BA diesen Kriterien im entsprechenden Nutzenbewertungsverfahren eine größere Bedeutung einräumen würde, so die Expert:innen. Wundinfektionen sind die häufigste Ursache für eine verzögerte Wundheilung, insofern sollten die Reduktion der Wundfläche oder die Reduktion klinischer Infektionszeichen für diese nur intermediär angewendeten Wundprodukte adäquate Parameter darstellen.
G-BA muss für Klarheit sorgen
Juliane Pohl, Leiterin Ambulante Gesundheitsversorgung beim BVMed, bemängelte, dass Hersteller bislang keine Informationen vom G-BA über die konkrete Bewertung des therapeutischen Nutzens erhalten haben. Dies sei aber eine Vorbedingung, um die erforderlichen Nachweise erbringen zu können. Dies gelte für primäre und sekundäre Endpunkte sowie für akzeptierte Studiendesigns und die Studienmethodik. Der G-BA habe jedoch kürzlich signalisiert, das Problem erkannt zu haben und ihm begegnen zu wollen, so Pohl. Mitte April 2023 hatte sich der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Prof. Josef Hecken, auf der BVMed-Mitgliederversammlung für ein Beratungsrecht der Medizinprodukte-Hersteller für die anstehenden Studien zum Nutzennachweis für die Erstattungsfähigkeit der sonstigen Produkte zur Wundbehandlung und für die Verlängerung der Übergangsfrist ausgesprochen.
Angesichts der wenig verbleibenden Zeit zur Erbringung der Nutzennachweise (Anfang Dezember 2023) sprach sich Diener dafür aus, dass „der G-BA tätig werden und erklären müsse“, was er von den Herstellern an Nachweisen verlange. Ebenso wie Lammert und Semann sprach er sich für ein Beratungsrecht für die Hersteller aus. Dem stimmte Pohl zu. Das allein reiche jedoch nicht aus: „Wir brauchen auch Klarheit über die Güte der akzeptierten Studien und die erforderlichen Endpunkte“, so Pohl.
Quelle: pi BVMed, 22.05.2023