Zelltherapeutikum aktiviert bei chronischen Wunden körpereigene Reparaturmechanismen
Ein Ulcus cruris venosum (UCV), umgangssprachlich „offenes Bein“ genannt, ist das häufigste Unterschenkelgeschwür infolge einer nicht-heilenden Wunde. Schätzungen gehen davon aus, dass 1% der Bevölkerung betroffen ist. Ausgelöst wird das UCV durch eine chronische Venenschwäche, chronisch-venöse Insuffizienz genannt. „Menschen mit einer chronischen Wunde – also einer Wunde, die nach acht Wochen nicht abgeheilt ist – haben einen hohen Leidensdruck. Neben den Schmerzen leiden die Betroffenen unter dem Geruch, der oft starken Sekretion von Wundflüssigkeit und den daraus entstehenden negativen Emotionen bis hin zur Depression“, erklärt Prof. Dr. med. Silke Hofmann, Direktorin des Zentrums für Dermatologie, Allergologie und Dermatochirurgie, HELIOS Universitätsklinikum Wuppertal. „Die Lebensqualität ist stark eingeschränkt. Auch eine soziale Isolation kann die Folge sein“, ergänzt die Beauftragte für die Öffentlichkeitsarbeit der DDG.
Bei mehr als 70% der UCV-Patientinnen und -Patienten heilt die Wunde innerhalb eines Jahres ab, bei etwa 30% bleibt das UCV aber länger als ein Jahr offen und etwa 3% der Wunden werden therapierefraktär. Bei Letzteren ist mit den üblichen und gut erprobten Therapien keine Heilung in Sicht. Zur Standardtherapie, wie sie auch die jüngst aktualisierte S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum [1] empfiehlt, gehören die Kompressionstherapie (= Bandagieren mit Kompressionsbinden oder Strümpfen), Débridement („Wundtoilette“, Entfernung von abgestorbenem Material und verschmutztem Gewebe) und Wundhygiene (regelmäßige stadienadaptierte Wundverbände).
Ein neuer therapeutischer Ansatz mit mesenchymalen Stammzellen
Für Erkrankte mit einer therapierefraktären venösen Wunde gibt es nun einen neuen therapeutischen Ansatz: Die Behandlung mit einem Zelltherapeutikum der Firma Rheacell, das aus mesenchymalen Stammzellen, kurz MSCs, besteht und aktuell in einer Multicenterstudie geprüft wird. MSCs sind Stammzellen des Bindegewebes mit „Potenzial“. „Ulcera cruris venosa sind immunologisch komplexe Wunden. Die Grundidee ist, die verantwortlichen Immunzellen umzuprogrammieren und so ein Abheilen zu ermöglichen“, sagt Hofmann.
Wunden heilen in drei aufeinanderfolgenden Phasen. In der Reinigungsphase wandern M1-Makrophagen an die betroffene Stelle und schütten zusätzlich entzündungsfördernde Botenstoffe wie Interleukin-1β (IL-1β) und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) aus, die weitere Immunzellen anlocken und aktivieren. Dann entsteht in der Proliferationsphase sogenanntes Granulationsgewebe. Dieses deckt die Wunde provisorisch ab und wird dann in der dritten Epithelisierungsphase in Narbengewebe umgebaut. Eine akute Wunde schließt sich innerhalb von drei Wochen.
Nun kann es vorkommen, dass sich die M1-Makrophagen selbst stimulieren, denn sie haben auf ihrer Oberfläche einen Rezeptor für IL-1β. Die Entzündung wird also weiter befeuert. Erst wenn dieser entzündungsfördernde Kreislauf unterbrochen wird und M1-Makrophagen sich in entzündungshemmende M2-Makrophagen umwandeln, kann die Wundheilung voranschreiten.
Die Wirkungsweise des auf ABCB5+ MSC basierenden Zelltherapeutikums nutzt immunmodulatorische Eigenschaften des Regulatorproteins ABCB5, das u. a. IL-1RA ausschüttet und das IL-1β blockiert. „Man könnte es so formulieren: Aus der chronischen wird wieder eine akute Wunde, die dann abheilen kann“, fasst Hofmann zusammen.
Studienergebnisse zeigen eine gute Wirksamkeit
Bei einer Phase I/IIa-Studie (interventionell, multizentrisch, einarmig) von Rheacell [2] erhielten Probanden, deren chronisch venöse Ulcera sich als resistent gegen die Standardtherapie erwiesen hatte, zusätzlich eine oder zwei topische Anwendungen mesenchymaler ABCB5+-Stammzellen. Die Größe der Wunde verringerte sich deutlich vom Ausgangswert bis Woche 12, was zu einer medianen Verringerung der Wundgröße um 87% in der Untergruppe derjenigen führte, die auf die Behandlung ansprachen (70%-ige Responder-Rate insgesamt). „Die Behandlung war erfolgreich und gut verträglich, was die mesenchymalen Stammzellen ABCB5+ zu einem Kandidaten für die ergänzende Therapie von ansonsten unheilbaren UCV macht“, fasst Hofmann zusammen.
Eine weitere randomisierte, kontrollierte Multicenterstudie (Phase-IIb Studie) zur Bestätigung der klinischen Wirksamkeit an über 30 Standorten [3] sammelt weitere Daten zur Dosisoptimierung. Die Sicherheitsdaten weisen bereits auf eine sehr gute Verträglichkeit hin.
Gewonnen werden die dermalen Stammzellen aus menschlicher Spenderhaut, in der sie nur einen Anteil von zwei bis drei Prozent der Hautzellen ausmachen. Die Zellen in der Primärkultur werden isoliert, vermehrt und eingefroren, nach Bedarf aufgetaut, weiter vermehrt und schließlich als Gel transplantiert. „Es ist faszinierend, wie diese lokale Stammzelltransplantation funktioniert und dass diese Zellen dann das lokale Immunsystem positiv beeinflussen“, sagt Prof. Dr. med. Julia Welzel, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Universitätsklinikum Augsburg, Medizincampus Süd und Präsidentin der DDG.
Das Arzneimittel ist bereits zur Behandlung des UCV zugelassen
Das Arzneimittel ABCB5+ MSC ist das erste zugelassenes Stammzellprodukt zur Behandlung von Ulcus cruris venosum. Das Präparat wird nach dem Débridement der Wunde einmalig auf die Wunde aufgetragen und mit einem Folienverband verschlossen. ABCB5+ MSC ist unter dem Handelsnamen Amesanar® (allogene ABCB5-positive mesenchymale Stammzellen) erhältlich.
In der Therapie mit MSCs liegen nach Ansicht der DDG-Präsidentin große Potenziale. „Es gibt weitere Erkrankungen wie beispielsweise die ‚Schmetterlingskrankheit‘, bei der eine Therapie mit diesem Zelltherapeutikum (verabreicht als Infusion) derzeit in einer Studie geprüft wird. Das wäre für Menschen mit bislang nicht-heilbaren angeborenen Hauterkrankungen, die mit chronischen Wunden an Haut und Schleimhaut einhergehen, ein großer Fortschritt.“
Diskussion auf der Pressekonferenz am 1. März 2024
Für wen diese Therapie infrage kommt, welche Ergebnisse erste Studien erbracht haben und wie dieser therapeutische Ansatz auch für andere dermatologische Erkrankungen eingesetzt werden könnte, diskutieren Expert:innen der DDG und des BVDD auf der Pressekonferenz am 1. März 2024 auf der Dermatologie KOMPAKT & PRAXISNAH.
Link zur virtuellen Teilnahme: https://us06web.zoom.us/j/87303424982
Literatur:
[1] S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum. Deutsche Gesellschaft für Phlebologie u. Lymphologie e.V. 2024. Available from: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/037-009.
[2] Kerstan A, Dieter K, Niebergall-Roth E et al. Allogeneic ABCB5+ mesenchymal stem cells for treatment-refractory chronic venous ulcers: a phase I/IIa clinical trial. JID Innov. 2022 Jan;2(1):100067. doi: 10.1016/j.xjidi.2021.100067. Epub 2021 Oct 25. PMID: 34870260; PMCID: PMC8635035.
[3] Informationen zur Studie und zu den beteiligten Kliniken: https://ulcus-cruris-studie.de/faq/#ulcus-cruris-studie
Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft e.V. (DDG), 12.02.2024