“Einmal durchs Weltall fliegen. Einmal beim Finale der Fußball-WM in der ersten Reihe sitzen. Einmal mit Reinhold Messner den Kilimandscharo besteigen. Alles ist möglich. Wie in echt, nur anders – mit Virtual Reality (VR). Für das Eintauchen in eine nicht existierende, virtuelle Welt (Immersion) braucht es VR-Brillen”, beschreibt Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Wesemann auf der Website des “Kuratorium Gutes Sehen e.V.” das Erlebnis einer VR-Brille und weiter: “VR-Brillen ermöglichen räumliches Sehen. Das unterscheidet das Erlebnis vom Schauen auf normale Bildschirme wie TV oder Smartphone. Mehr noch: VR-Brillen schicken uns nicht nur in einen virtuellen Raum, wir können darin scheinbar grenzenlos in alle Richtungen sehen, gehen und interagieren.”

Und ja, viele von uns haben so ein Ungetüm mit aufgeklemmtem Smartphone schon einmal versuchsweise auf der Nase gehabt. Und die meisten kennen auch Bilder von Gaming-Freaks, die mit Brille und speziellen Handschuhen bewaffnet, schwierige Aktionen in Videospielen erledigen. Manch einer zahlt Eintritt auf einer “Gamescom”, um das das Können der Gamer auf einer Großleinwand verfolgen zu können.

VR hält Einzug in die Ausbildung zur Wundversorgung

Frau mit VR-Brille und Controllern seitlich als Silhouette vor der Leinwand

Im Forschungsprojekt „DiViFaG“ entstehen digitale „eSzenarien“, in denen Studierende des Studiengangs Pflege bereits Tätigkeiten ihres späteren Berufsalltags einüben können. © P. Pollmeier/FH Bielefeld

Mit geübten Handgriffen packt Amelie Wefelnberg das Verbandszeug aus. „Jetzt kurz stillhalten, das kann etwas weh tun“, sagt sie mit ruhiger Stimme zu der Patientin auf dem Krankenhausbett, während sie die offene Wunde am Schienbein verbindet. Eine alltägliche Situation in einem Krankenhaus oder Pflegeheim. Doch statt Gemurmel auf dem Krankenhausflur summt nur ein Beamer leise unter der Decke. Amelie Wefelnberg befindet sich auch nicht in einem Krankenzimmer, sondern im Skills Lab der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Statt in weißer Kluft Auge in Auge mit einer Kranken zu sein, trägt sie lediglich eine schwarze Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf und vollführt Bewegungen im luftleeren Raum. Was ist da los?

Amelie Wefelnberg studiert am Fachbereich Gesundheit der FH Bielefeld und ist zudem wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsprojekt „Digitale und virtuell unterstützte Fallarbeit in den Gesundheitsberufen“ (DiViFaG). In dem Projekt werden verschiedene „eSzenarien“ zur problemorientierten Fallarbeit entwickelt und erprobt. Die Szenarien simulieren mithilfe digitaler Technologien wie der virtuellen Realität (VR) Alltagssituationen im Gesundheitsbereich, beispielsweise die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten, die Infusionsvorbereitung oder eben die Versorgung von Wunden in einer virtuellen Umgebung.

Erste Szenarien von Pflege-Studierenden erprobt

Ein dunkel gekleideter Mann mit Bart und Brille, dem die Controller schon an den Handgelenken hängen, führt seine Hände zum Kopf, um sich die VR-Brille über die Augen zu ziehen.

Im Forschungsprojekt „DiViFaG“ entstehen digitale „eSzenarien“, in denen Studierende des Studiengangs Pflege bereits Tätigkeiten ihres späteren Berufsalltags einüben können. © P. Pollmeier/FH Bielefeld

Studierende des Studiengangs Pflege haben in einem ersten Schritt bereits zwei von zahlreichen weiteren geplanten eSzenarien erprobt und auf „Herz und Nieren“ geprüft. Dabei handelt es sich um die Szenarien „Menschen mit chronischen Wunden begleiten“ und „In Notfallsituationen handeln“. Funktioniert die Bedienung der VR-Brille? Werden alle wichtigen Handlungsschritte abgefragt? Und vor allem: Ist die Übung auch realistisch? Das waren die wichtigsten Ausgangsfragen für den Check.

„Die Szenarien basieren immer auf einem authentischen Fallbeispiel, das didaktisch aufbereitet wurde“, erklärt Lisa Nagel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt. „Die Studierenden können sich in Audiodateien die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Akteurinnen und Akteure, beispielsweise der verletzten Person oder der behandelnden Ärztin, anhören, wodurch ein umfassendes Bild der Lage entsteht.“

Mehr Sicherheit und weniger Materialverschwendung

Nach einer kurzen Einführung durch das Projektteam durften die Studierenden in die VR-Brille und die dazugehörigen Controller schlüpfen. Über den Bildschirm in der Brille finden sie sich in einer dreidimensionalen Umgebung wieder und müssen mit den Patientinnen und Patienten sprechen, bestimmte Handlungsschritte absolvieren und beispielsweise eine Reanimation an einer Person vornehmen. Gesteuert wird die Übung mit den Controllern, die mit dem Programm verbunden sind – ähnlich wie in einem Computerspiel. Die Lehrenden und Kommilitoninnen und Kommilitonen können die Übung auf dem Bildschirm verfolgen.

Bereits nach kurzer Zeit waren die Berührungsängste mit der Technik verflogen. Das Feedback der Studierenden fiel durchweg positiv aus. Eine Studentin: „Wenn man sich einen Handlungsplan oder Lehrvideos anguckt, dann sieht man die Aufgaben nur. Durch die VR-Szenarien können wir die Übungen auch selber durchführen, ohne dass wir beispielsweise Materialien unnötig verschwenden.“

An die virtuellen Übungen schließt sich die gleiche Aufgabe im Skills Lab mit realen Personen und in einer realistischen Umgebung an. Dafür legt sich die Kommilitonin dann auch tatsächlich in das „echte“ Pflegebett und lässt sich die geschminkte Wunde auf dem Bein verbinden. Patientin beruhigen, Handschuhe anziehen, Wunde verbinden – die Handlungsschritte bleiben gleich.

Unterschiedliche Zugangswege zu Lehrinhalten

Eine Auszubildende mit Maske und Handschuhen behandelt das Bein eines Patienten.

Nicht nur virtuell unterwegs: Die Übungen werden auch an realen Personen im Skills Lab durchgeführt. © P. Pollmeier/FH Bielefeld

Derartige praxisnahe Übungen an konkreten Fällen sind wichtiger Bestandteil der Ausbildung im Gesundheitsbereich. Die virtuellen Übungen sollen die Aufgaben im Skills Lab oder den Austausch mit Lehrenden keinesfalls ersetzen, sondern den Studierenden ergänzend Sicherheit für die praktischen Übungen und den späteren Berufsalltag geben.

Ariane Rolf, examinierte Altenpflegerin und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Gesundheit, begleitete die Studierenden bei den ersten Übungen und weiß um die Vorteile verschiedener Lehrformate: „Durch den Fallbezug erhalten die Szenarien eine Nähe zum Berufsalltag, die für die Vernetzung von Theorie und Praxis besonders wertvoll ist“, so Rolf weiter. „Außerdem bringen die unterschiedlichen Lehr- beziehungsweise Lernmethoden eine wertvolle Abwechslung ins Studium, die förderlich ist für die Aufnahme der Inhalte. Die Kombination aus Präsenz- und Distanzveranstaltungen ermöglicht ein selbst gesteuertes Lernen. Alles in allem: eine Bereicherung für das Studium und die Studierenden!“

Interdisziplinärer und hochschulübergreifender Austausch

Die Rückmeldung der Studierenden fließen in das Schulungskonzept für die entwickelten Lehr-/Lernszenarien mit ein und werden an alle beteiligten Hochschulen des Projekts weitergegeben. Neben der FH Bielefeld sind die Universität Bielefeld (Medizin und Mediendidaktik), die Hochschule Osnabrück (Pflegewissenschaft) sowie die Hochschule Emden/Leer (Informatik) an dem Projekt beteiligt.

Ein wichtiger Teilaspekt des Projekts ist der Austausch zwischen den Disziplinen Pflege und Medizin. Geplant ist dafür auch die Entwicklung eines „Multiplayer-Szenarios“, in dem sich Studierende verschiedener Disziplinen von verschiedenen Orten aus als Avatare in einem virtuellen Raum treffen können und gemeinsam einen Fall besprechen. 


Über das Projekt DiViFaG
Das interprofessionell, interdisziplinär und hochschulübergreifend entwickelte fachdidaktische Konzept wird am Ende als Open Educational Ressource (OER) zur Verfügung gestellt. Das Projekt wird im Rahmen der Förderlinie „Forschung zur digitalen Hochschulbildung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Förderlinie nimmt die derzeitige E-Learning-Praxis der Hochschulen in den Fokus und beschäftigt sich mit dem Potenzial, das die Nutzung digitaler Medien in der Hochschulbildung bietet.


pi FH Bielefeld, 29.03.2021. Beitragsbild: © P. Pollmeier/FH Bielefeld